Die kleine Hexe besucht eine Freundin

Die Freundin der kleinen Hexe wohnte auf dem Mond, hinter den Mondbergen, am Fluss des gelben Rauches, bei dem Mondmann mit den schönen Augen.

Eine elegante Dame war diese Freundin: In weite duftende Kleider gehüllt, mit golden und schwarzschimmernden Augen. Die kleine Hexe fühlte sich immer sehr feierlich, wenn sie ihre Freundin besuchte: Sie fühlte sich an, wie eine kleine Schwester.

 

In früheren Zeiten waren die kleine Hexe und ihre Freundin unzertrennlich gewesen. Sie waren durch die Wälder gezogen, auf ungezähmten Pferden geritten und reißende Wasserfälle hinuntergefahren, sie hatten tiefe Schluchten übersprungen, mit Bären und wilden Füchsen gekämpft und unter dem Himmel geschlafen. Eine wilde Zeit hatten war das gewesen und sie waren ein starkes, eng verbundenes Gespann gewesen.

 

Aber dann hatte die Freundin der kleinen Hexe den Mondmann kennengelernt, mit den schönen Augen. Hinter den Mondbergen wohnte er, am Fluss des gelben Rauches. Und es war so ein verzauberter Platz zum Wohnen, der sich auf eine so herzensstille Weise in den schönen Augen des Mondmannes widerspiegelte, dass die Freundin der kleinen Hexe nicht widerstehen konnte: Sie packte ihre Siebensachen und zog zu ihm, auf den Mond.

"Komm mich besuchen." hatte die Freundin gesagt und elegant mit den gold und schwarzschimmernden Augen geklimpert. Die kleine Hexe hatte geweint. Dann war die Freundin fortgegangen.

 

Im frühen Herbst machte sich die kleine Hexe daran, ihre Freundin zu besuchen. Sie packte eine Flasche Kamillentee und einen Laib warmes Kräuterbrot in ihr Kopftuch, dann zog sie ihre roten Herbststiefel über und schwang sich auf den Besen.

Es war eine lange Reise auf den Mond, hinter die Mondberge, an den Fluss des gelben Rauches. Sieben Stunden brauchte die kleine Hexe, für den Hinflug. Müde war sie, als sie den Hexenbesen über den Fluss des gelben Rauches lenkte, zu dem Häuschen am Fuße der Mondberge.

 

Da kam die Freundin schon aus dem Häuschen gelaufen. Sie war elegant wie immer, in ein weites, duftendes Kleid gehüllt. Hinter ihr stapfte der Mondmann: Verwuschelt, verstrubbelt, und fröhlich brummend. Freundlich begrüßte er die kleine Hexe: "Herzlich willkommen, kleine Hexe. Herzlich willkommen, auf dem Mond!"

Die Freundin umarmte die kleine Hexe. "Sieh mal hier, kleine Hexe: Das ist unser Häuschen! Es hat ein sicheres Dach und ein Fenster zum Hinausgucken! Hier steht ein Tisch, an dem wir sitzen können, wenn wir essen! Und hier steht unser Bett: Es ist groß und weich und gemütlich! Sag einmal ehrlich, kleine Hexe: Hast Du jemals so ein schönes Haus gesehen?"

Die kleine Hexe lachte und schüttelte den Kopf.

 

"Und was machst Du so, kleine Hexe, unten im Wald? Geht es Dir gut?"

"Ach ja." sagte die kleine Hexe. "Mir geht es gut."

Die elegante Freundin klimperte mit den schönen Augen und lächelte.

 

"Wollen wir heute Nacht mal wieder unterm freien Himmel schlafen?" fragte die kleine Hexe aufgeregt.

"Ach nein." sagte die Freundin. "Ich habe doch so ein weiches, gemütliches Bett."

"Wollen wir mit Bären und wilden Füchsen kämpfen, zur Erinnerung an alte Zeiten?"

"Ach nein."sagte die Freundin. "Ich kämpfe nicht mehr so gerne. Das ist mir zuviel Aufregung."

"Wollen wir einen reißenden Wasserfall hinabfahren, auf einer Regentonne?"

"Ach nein." sagte die Freundin. "Das tut man doch nur, wenn man jung ist."

 

Die kleine Hexe wollte im Weiher schwimmen, aber der Freundin war es zu nass.

Die kleine Hexe wollte über eine tiefe Schlucht springen, aber der Freundin war es zu weit.

Die kleine Hexe wollte in der Nacht spazierengehen, aber der Freundin war es zu dunkel.

Ärgerlich sagte sie: "Kleine Hexe, jetzt hör’ doch mal auf mit Deinen komischen Ideen! Mein Mondmann muss morgen früh wieder zur Arbeit, und ich muss auf ihn warten. Nicht wahr, mein Häsipups?"

Und der Mondmann lachte.

 

Lange dauerten die Stunden auf dem Mond. Schließlich, nach drei Tagen war der Besuch vorbei. Freundlich verabschiedete sich die kleine Hexe vom Mondmann und der eleganten Freundin mit den schönen Augen.

 

Nach ihrer Rückreise saß die kleine Hexe lange am Feuer, abwesend starrte sie in die züngelnden Flammen.

"Häsipups." flüsterte sie leise und schüttelte den Kopf.

 

"Was genau" brummte der alte Kater, "macht Dich so traurig: Dass Deine Freundin nicht mehr mit Dir durch die Wälder zieht? Oder dass sie einen Mondmann gefunden hat und Du nicht?"

Die kleine Hexe seufzte. "Ich weiß es nicht. Vielleicht beides."

Einige stille Momente starrten die beiden ins springende Feuer. Ein Holzscheit knackte. Schließlich zog ein Lächeln über das Gesicht der kleinen Hexe. "Ich freue mich," flüsterte sie, "dass es ihr gut geht. Ich freue mich, dass sie glücklich ist."

Der alte Kater legte den Kopf in den Schoß der kleinen Hexe. Sie streichelte ihm die Ohren, er fing an zu schnurren.

 

So saßen sie da, bis die Nacht kam.

 

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