Hoffmanns Erzählungen

Hoffmanns Erzählungen lautet der Arbeitstitel eines groß angelegten Erzählprojektes, an dem wir seit einigen Jahren gemeinsam arbeiten. Und es hat einen inhaltlichen Sinn, dass wir uns den Titel der Hoffmann-Oper von Jacques Offenbach ausleihen. Dazu mehr hier auf dieser Seite.

Eine Idee kommt vorbei

Im Sommer 2010 hatten wir das Glück, auf eine ausgesprochen spannende und wirklich grundlegende Erzählidee zu stoßen. Wir hatten einfach Glück: Die Idee kam zufällig vorbei, es war keine besondere Leistung von unserer Seite notwendig. Aber vielleicht ist es erlaubt zu sagen, die "Leistung" bestand darin, die Idee auch zu ERKENNEN, als sie vorbeischlich. Denn an jedem Tag kommen und gehen viele Ideen. Und nicht alle sind gut. Und nicht alle fallen auf. Und nicht alle sind sofort als das erkennbar, was sie später sein können. Und die eigentliche Leistung besteht eher darin, dieser Idee jetzt auch gerecht zu werden: Ihr Potential auszuschöpfen, ein komplexes Erzähluniversum aufzubauen und darin eine (oder mehrere) gut erfundene, gut erzählte Geschichte(n) zu entwickeln.

 

Diese Idee kam also vorbei und machte auf sich aufmerksam. Zunächst wirkte sie klein und übersichtlich. Erst nach und nach stellt sich heraus, was sich alles hinter ihr verbarg. Und so lautete die kleine Idee, die uns heimsuchte: "Wie sähe die Welt aus, wenn heute noch Menschen aus vergangenen Jahrhunderten leben würden?"

 

So wenig erstmal, und so viel.

Chronologie

2010 hatten wir gerade mit der Produktion des Dokumentarfilmes Nachbarn rollen vorüber angefangen, über die Wohnstätte Claus-Sinjen-Straße in Kronshagen. Und da wir bisher immer noch alles nebenberuflich machen, blieb nicht viel Zeit, sich intensiver mit der neuen Idee auseinanderzusetzen. Wir stellten sie vorsichtig in unseren Hinterköpfen ab und baten sie höflich, doch erstmal noch ein bisschen zu warten. Ein Jahrzehnt.

In den nächsten Jahren erzählten wir immer mal von der Idee, auf Familienfeiern oder wenn wir uns mit Freunden trafen. Wir fragten viele Leute: "Wer sollte für Dich noch am Leben sein? Welche bereits verstorbene Persönlichkeit hättest Du gerne noch in unserer Gegenwart zur Verfügung?" Die Antworten waren sehr unterschiedlich: Manche wünschten sich Hildegard von Bingen, andere wünschten sich Kurt Cobain. Die Antworten sagten mehr aus über die Sprecher, als dass sie wirklich zur Idee beitrugen.

 

Zwischen den Jahren 2010 und 2014 stellten wir den Wohnstättenfilm fertig. Im Frühjahr 2014 feierte er Premiere, im Herbst 2014 lief er nochmal auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck. Und erst danach, im Herbst/Winter 2014/2015 kehrten wir wirklich ernsthaft zurück zu unserer kleinen Idee.

Vorbilder

Die Kulturgeschichte kennt viele Erzählungen über Menschen, die lange leben. Bekanntestes Beispiel ist vielleicht der 1897 erstveröffentlichte Urvater aller Vampirromane Dracula des irischen Schriftstellers Bram Stoker. Seit 400 Jahren "lebt" die Dracula-Figur, beziehungsweise treibt als Untote ihr Unwesen. Der Roman legt den Schwerpunkt allerdings nicht auf die Lebensgeschichte des Dracula, den Durchmarsch durch die Jahrhunderte. Die Handlung verweilt immer in der Erzählgegenwart um 1889/1890. Insofern liegt die Dracula-Geschichte nur am Rande dessen, was uns interessiert.

 

Im Jahre 1928 veröffentlichte Virginia Woolf den Roman Orlando - eine Biographie. Sie erzählt von dem jungen Adeligen Orlando, der im England des 16. Jahrhunderts unter dem Schutz von Königin Elisabeth I. aufwächst, viele merkwürdige Abenteuer erlebt, zwischendurch das Geschlecht wechselt und sich 300 Jahre später, im London des 20. Jahrhunderts (im Jahr 1928, dem Erscheinungsjahr des Buches), als moderne Frau und Dichterin wiederfindet. Der Roman funktioniert als Satire, die Genderfragen anspricht und soziales, politisches, kulturelles Leben der verschiedenen Epochen Groß Britanniens persifliert. Es bleibt eine leichte, fröhliche Geschichte, nicht dumm, aber auch nicht schwer oder deprimierend.

Der Roman Tous les hommes sont mortels (Alle Menschen sind sterblich) von Simone de Beauvoir, erstmals 1946 erschienen, erzählt von dem italienischen Adligen Raimondo Fosca, der einen Zaubertrank schluckt, um unsterblich zu werden. Im Unterschied zu Orlando entscheidet sich Fosca also bewusst für die Unsterblichkeit. Fosca erlebt das ausgehende Mittelalter, verheerende Kriege und Massaker und zerbricht an der Unmenschlichkeit der Welt, wird zwischendurch sogar wahnsinnig. Für ihn wird die Unsterblichkeit zur Strafe, die ihm jeden Lebenssinn raubt.

 

Im US-Spielfilm Highlander aus dem Jahr 1986, Regie Russell Mulcahy, Drehbuch von Gregory Widen, wird der 1518 in den schottischen Highlands geborene Connor MacLeod in einem Zweikampf tödlich verwundet, gesundet aber schnell wieder. Von seinem abergläubischen Clan wegen Teufelsbündnerei verstoßen, lernt er, zu einer Gruppe von "Unsterblichen" zu gehören, die einerseits sehr lange leben, sich andererseits auch immer wieder im gegenseitigen Zweikampf besiegen müssen, damit am Ende nur noch einer übrig bleibt. Die Logik mal beiseite: Das lange Leben des Connor McLeod durch verschiedene Epochen bietet viele amüsante Situationen und unerwartete Synergien.

 

Orlando, Tous les hommes sont mortels und das Highlander-Franchise stellen auf unterschiedliche Weise den Gang der lange lebenden Menschen durch die Jahrhunderte dar: Aus dem Mittelalter über die Frühe Neuzeit, Renaissance, Reformation, Barock und Aufklärung bis in die Industrialisierung der Moderne.

 

Das "romantische Filmdrama" (sagt Wikipedia) Only Lovers Left Alive von Jim Jarmusch aus dem Jahr 2013, greift den Vampirmythos wieder auf. Hier steht nicht der Kampf gegen die Vampire im Mittelpunkt, Jarmusch philosophiert stattdessen aus der Sicht der Untoten über das Ennui und die Unfähigkeit, die lange Spanne der Jahrhunderte mit sinnvollen Tätigkeiten zu füllen.

Es könnten weitere Vorbilder genannt werden, aber diese sollen erstmal reichen. Interessant ist: Alle diese Werke, so unterschiedlich sie auch sind, eint die Gemeinsamkeit, dass die Unsterblichkeit, bzw. die Möglichkeit des langen Lebens, eine Ausnahme bleibt, in der erzählten Welt. Eventuell sind es nicht nur Einzelpersonen, sondern immerhin kleine Gruppen von Leuten, denen das lange Leben möglich ist: In den Vampirgeschichten, von Dracula über Anne Rice's Vampire Chronicles bis hin zu Only Lovers left alive, auch im Highlander-Franchise. Connor MacLeod kann also Freunde finden, die Vampire in Stephenie Meyers The Twilight Series leben als Familie zusammen, die Vampire Adam und Eve aus Only Lovers... führen eine extravagante Ehe, über Jahrhunderte hinweg.

 

Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Vampire und Highlander's "Unsterbliche" zwar sehr lange alterslos leben, am Ende aber dennoch sterben können: Durch einen Pflock ins Herz oder die Enthauptung durch das Schwert eines Kollegen. Diese Erzählideen geben ihren Leben trotz der Alterslosigkeit die Möglichkeit eines Abschlusses. Sie sind nicht wirklich "unsterblich", sondern gewissermaßen... "potentiell sterblich". Diese Möglichkeiten werden bei Orlando und Tous les hommes... ausgeschlossen. In seiner Welt lebt ausschließlich Orlando so lange. Und er kann nicht umkommen, auch nicht durch Pflock oder Schwert. In seiner Welt sieht ausschließlich Raimondo Fosca die Menschen um sich herum altern und sterben und geht daran psychisch zugrunde. Insbesondere Fosca und Connor MacLeod haben große Schwierigkeiten damit, Menschen um sich herum zu verlieren, altern und sterben zu sehen. Sie hadern damit, als einzige jung zu bleiben, verzweifeln an der Möglichkeit, irgendwann alleine übrig zu bleiben.

 

Wir haben alle diese Werke mit Freude und Interesse gelesen und geglotzt. Sie sind eine große Inspiration geworden, da ihre Erzählideen mit unserer verwandt sind. Wir haben sie aber deshalb hier akribisch aufgelistet, um den Unterschied zu unserer Erzählidee zu herauszuarbeiten: Denn in unserem Erzähluniversum sind thematischer und moralischer Schwerpunkt deutlich verschoben.

 

Die Idee bei uns lautet nicht: "Wie kommt ein einzelnes Individuum (oder auch eine kleine Gruppe von Individuen) damit zurecht, in einer sterbenden, sich veränderten Welt als einzige jung zu bleiben?" - Die Idee bei uns lautet: "Wie sähe die Welt heute aus, im Jahr 2019, wenn jeder Mensch, der auf der Erde gelebt hat und jeder, der noch leben wird, theoretisch die Möglichkeit hat, viele tausend Jahre alt zu werden?"

Symbole auf der Autobahn

Inspiriert wurde unsere Idee durch einen Cartoon aus der Serie The Far Side des amerikanischen Zeichners Gary Larson. Irgendwo, in den Untiefen des Far Side-Universums steckt dieser eine Cartoon, leider wissen wir nicht mehr, aus welchem Band er ursprünglich stammt, weil wir ihn im Complete Far Side Kompendium gefunden haben. Ist aber auch egal, abbilden werden wir ihn hier eh nicht, aus Urheberrechtsgründen. Aber beschreiben dürfen wir ihn.

 

Der Cartoon zeigt eine Autobahn mit vier Fahrspuren: Eine für PKWs, eine für LKWs, eine für Raumschiffe und eine für Höhlenmenschen auf Mammuts. Die Spuren sind entsprechend gekennzeichnet. So wenig erstmal, und so viel.

 

Auf den ersten Blick, vordergründig gesehen, scheint der Cartoon nicht besonders witzig. Er ist kein Brüller, der den Leser_innen die Pointe mit Nachdruck ins Gesicht schmeißt. Er bietet aber ein Bild, das uns angehalten und zum Nachdenken gebracht hat: Eine unübertroffen einfache graphische Darstellung der impliziten Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. - Die Zukunft wird durch ein Raumschiff repräsentiert, die Vergangenheit durch ein Mammut, beide Bilder sind bereits zum Erzählklischee geronnene Symbole. Auf den zweiten Blick rückt daher die weitere Unterscheidung zwischen PKW und LKW ins Auge, die aus dem bildsymbolischen Rahmen ausschert: PKW und LKW kommen aus derselben Zeit und repräsentieren die Gegenwart. Für die Basispointe hätte eines der Fahrzeuge ausgereicht. Warum wird hier also noch auf andere Weise unterschieden?

 

Die Unterscheidung zwischen PKW und LKW verweist auf verkehrspolitische Probleme des Güterverkehrs auf der Straße, der zum Problem für Privatfahrer_innen wird. Ein Problem, das vordergründig nichts mit historischen Epochen zu tun hat, wird subtil in den Witz eingeflochten. Vereinfacht gesprochen: Die Zukunft wird durch ein Raumschiff repräsentiert, die Vergangenheit durch ein Mammut, die Gegenwart durch die spießige Pingeligkeit, unbedingt noch zwischen PKW und LKW unterscheiden zu müssen. :-) Der Cartoon wird immer witziger, je länger wir über ihn nachdenken.

Die Gleichzeitigkeit von Allem

Gary Larsons Autobahn friert den chronologischen Ablauf von Geschichte ein und fasst sie in einem Augenblick zusammen. Wir brauchten eine ganze Weile, um zu verstehen, dass sich hinter diesem Gedanken eine ganze Erzählwelt verbarg. Oberflächlich tauchte die Frage auf: Welche Geschichte würde sich ergeben, wenn die Fahrer_innen auf Gary Larsons Autobahn von ihren Fahrzeugen kletterten und miteinander ins Gespräch kämen? Das ist die Grundidee unseres Erzählprojektes.

 

Etwas tiefer gedacht: Die Diskurse und Konflikte, die wir heute aktuell diskutieren, haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Unsere heutige Zeit, unsere heutige Welt, ist durchsetzt von Strukturen der Vergangenheit. Unsere Gedanken und Gespräche, unsere Vorstellungen von Liebe, Familie, Gesellschaft, Staat, von Gott und Welt, von Leben und Sterben... Unser ganzes Denken, unser ganzes Leben: Alles ist aufgebaut auf dem Fundament vergangener Jahrhunderte. Wir bewegen uns in alten Diskursen und Infrastrukturen. Die Sprache, die wir sprechen, ist eine von heute, aber entwickelt hat sie sich aus älteren Sprachstufen, die wir heute gar nicht mehr verstehen würden. Die Straßen, durch die wir fahren, die Infrastruktur der Städte und Dörfer, hat sich entwickelt über viele Jahrhunderte und Jahrtausende.

 

Wenn wir den chronologischen Ablauf der Geschichte einfrieren und in einem Augenblick zusammenfassen, dann geht es uns nicht darum, historische Kontexte maßstabsgenau zu vermessen. Insofern soll unser Romanprojekt kein sogenannter "Historienroman" werden. Wir verstehen es vielmehr als eine Satire, die sich mit dem Einfluss vergangener Diskurse auf die Gegenwart beschäftigt. Wir argumentieren aus der Gegenwart heraus, greifen aktuelle Themen auf und setzen sie mit der europäischen Vergangenheit in Verbindung. Thema unseres Buches sind zeitgenössische Diskurse: Überbevölkerung und Ressourcenknappheit, Technikfortschritt und Klimawandel, die zunehmende Diversifizierung der Gesellschaft und der konservative Backlash der letzten Jahre. Aber wir sprechen über diese Themen mit der geschichtlichen Entwicklung im Hinterkopf, die den Entwicklungsprozess der Diskurse mitdenkt.

Eine Satire für die Gegenwart

Das Buch ist eine Satire auf die heutige Zeit und gleichzeitig eine Alternativgeschichte. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie die Welt heute, im Jahr 2019, aussehen würde, wenn noch Menschen aus vergangenen Jahrhunderten leben würden. Hätten sie sich an die moderne Gesellschaft angepasst? Oder hätten sie versucht, ihren originären Lebensstil zu bewahren? Gäbe es mittelalterliche oder barocke Stadtviertel in den Städten? Wie würden diese Menschen den öffentlichen Diskurs prägen?

 

Was für ein Leben würde Kaiser Wilhelm der II. führen, lebte er heute noch? Was für ein Leben würde J.W. von Goethe führen, lebte er heute noch? Was für ein Leben würden ganz normale Menschen aus einem Kiel von vor dreihundert Jahren führen, Bauern und Fischer, hätten sie es geschafft, Kriege und Krankheitswellen der letzten Jahrhunderte zu überleben?

 

Woher z.B. kommt das Gedankengut einer Reichsbürgerbewegung? Und inwiefern ist die Novemberrevolution von 1918 mit dem heutigen multikulturellen Europa verknüpft? Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, in wie weit gedankliche Vorstellungen vergangener Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart reichen und unseren Blick auf die Welt prägen.

Making of

Noch ganz zum Schluss ein kurzes Wort zum Making-of: Wir haben bisher keinen Verlag für das Buch gefunden. Um dem Projekt Aufmerksamkeit zu verschaffen, filmen wir daher eine Video-Dokumentation, die die Entstehung des Buches festhält. Zunächst einmal sollen zwölf Folgen der Dokumentation als Webserie auf YouTube und auf dieser Webseite veröffentlicht werden, eine Folge pro Monat, jeweils hochgeladen am 25. des Monats, jeweils ca. 40 Minuten lang. Mehr dazu auf dieser Seite.

 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


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