Dreharbeiten in der Wohnstätte Claus-Sinjen-Straße: Ein Arbeitsbericht von Michael Sindt

Ausgangslage

Die Wohnstätte Claus-Sinjen-Straße wurde im Frühjahr 2007 eröffnet als jüngste Wohnstätte der Werk- und Betreuungsstätte GmbH (WuB). Im Sommer 2007 fing ich an, als Betreuer in der Claus-Sinjen-Straße zu arbeiten.

 

Im Jahr 2008 produzierte ich mit den Kieler Filmemacherinnen Sarah Roloff und Linnéa Kviske den Kinderfilm Familie Rabel fährt in den Urlaub, im Anschluss suchten wir nach einem neuen Projekt. Ich arbeitete bereits seit zwei Jahren in der Claus-Sinjen-Straße und schlug vor, eine Dokumentation über die Wohnstätte zu beginnen. Das Projekt sollte unser erster abendfüllender Spielfilm werden. Die Produktion konnte nur gelingen, weil ich die Wohnstätte schon gut kannte: Ein Großteil der Recherche war sozusagen schon abgeschlossen.

 

Finanzierung

Eine Finanzierung konnte nicht gefunden werden. Vielleicht lag es an unserer fehlenden Erfahrung als Filmemacher, vielleicht lag es am schwierigen Thema: Aber sowohl der öffentliche Rundfunk als auch die Filmförderung Schleswig-Holstein winkten ab. Bei der Filmwerkstatt Kiel stellten wir zweimal Antrag auf Produktionsförderung und wurden zweimal abgelehnt. Nach erfolgreicher Fertigstellung des Projektes konnten wir immerhin eine Vertriebsförderung für die Produktion der DVD bekommen.

 

Recherche und Vorproduktion

Im Vorfeld sichteten wir eine Reihe von Dokumentarfilmen zum Thema Behinderung. Viele dieser Filme machten den Fehler, über betroffene Personen zu berichten, statt mit ihnen. Oft saßen in diesen Filmen Wissenschaftler vor Schautafeln und erklärten die Begriffe "Behinderung", "Spastik" oder - absurderweise - "Inklusion". Unter dem Eindruck dieser Filme gaben wir uns eine klare formale Leitlinie: Der Film sollte aus der Perspektive der Bewohner erzählen. Wir würden die Behinderungen nicht erklären, nicht darüber reflektieren, was die Bewohner konnten oder nicht. Es sollte keinen externen Voice Over geben, der Zusammenhänge erklärt. Formal hoben wir die Kamera aus der üblichen Höhe des Fußgängers hinunter auf Rollstuhlhöhe und filmten konsequent aus Untersicht: Selbst wenn dabei stehenden Fußgängern die Köpfe abgeschnitten wurden.

 

Im Herbst 2009 stellten wir die Idee den Bewohnern in der wöchentlichen Bewohnerversammlung vor. Zwei Bewohnerinnen erklärten sofort, nicht gefilmt werden zu wollen. Wir hielten sie während des Drehs aus allen Aufnahmen heraus. Alle anderen Bewohner waren einverstanden, manche vorsichtig, zurückhaltend, andere aber auch sehr begeistert und enthusiastisch. Nach der Zustimmung der Bewohner stellten wir das Projekt in der Eltern- und Angehörigenversammlung vor. Viele Eltern zeigten sich sehr gerührt von unserem Interesse: Sie hatten nicht mit so viel Interesse von Seiten der WuB-Mitarbeiter gerechnet. Noch am Abend unserer Elternpräsentation bekamen wir eine e-mail von Familie Traeger: Garnett und Christian Traeger bedankten sich herzlich für unser Interesse an ihrer Tochter Yara und sagten uns ihre volle Unterstützung für das Projekt zu. Sehr gerne wollten sie offen und ehrlich ihre Geschichte erzählen. Wir hatten unsere erste Protagonistin gefunden.

 

Das Einverständnis der Angehörigen brachte uns zum Schluss noch in die Leitungsrunde der WuB-Geschäftsführung. Auch die Geschäftsführung war einverstanden mit dem Projekt, solange wir den Datenschutz beachten würden.

 

Dreharbeiten

Im Frühjahr 2010 begannen wir, regelmäßig in der Wohnstätte zu drehen. Zunächst begleiteten wir vierzehn Tage lang den Frühdienst und Spätdienst, um die Tagesstruktur einzufangen. Anschließend waren wir alle paar Monate wieder für einige Stunden mit der Kamera vor Ort. Nach den ersten Drehwochen ließ die Begeisterung der Bewohner deutlich nach. Gerade die langen Vorgespräche und Interviews fanden viele Bewohner anstrengend. Stefan Neubauer, zu Projektbeginn noch von Begeisterung erfüllt, zog sich im Laufe des ersten Jahres zurück. Immer wieder gab er uns zu verstehen, an bestimmten Tagen nicht gefilmt werden zu wollen. Aufgrund von Materialmangel strichen wir ihn schließlich als Hauptfigur und bauten ihn zusammen mit Ute Schlatow-Biber in eine Art Kommentator um.

 

Ruth Krokowski auf der anderen Seite war zu Projektbeginn noch ausgesprochen skeptisch gewesen. Nach und nach zeigte sie sich aber beeindruckt von unserem Interesse und öffnete sich mehr und mehr. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ingrid Seifert ermöglichte sie uns den Zugang zu ihrer Mutter Johanna Krokowski, die noch während der Dreharbeiten verstarb.

 

Montage des Materials

Die Montage des Materials ist sortiert nach verschiedenen Strukturen. In den ersten zehn Minuten wird der Tagesablauf der Bewohner in der Wohnstätte exemplarisch vorgeführt: Frühdienst, Abfahrt zur Arbeit, Rückkehr von der Arbeit, Nachmittag, Spätdienst und Nacht. Diese Struktur wird im folgenden immer wieder aufgegriffen. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Arbeit in den Werkstätten in Ottendorf. Im Laufe des Filmes zieht die Wohnstätte außerdem durch einen Jahreslauf: Über den Sommer, den Herbst und den verschneiten Winter mit Weihnachtsbasar und Jahreswechsel, über den Frühling zurück in den Sommer. Die Jahreszeiten erlauben regelmäßige Schnittwechsel zwischen den Hauptfiguren Gunnar Lenz, Ruth Krokowski und Yara Traeger. Einzelabschnitte werden strukturiert durch Musiksequenzen sowie durch ein begleitendes Interview von Stefan Neubauer und Ute Schlatow-Biber.

 


Bankraub

Einen lustigen Höhepunkt bietet am Ende noch die Bankraub-Geschichte mit Justus Reichhelm und Manfed Gol. Die fiktionale Geschichte eines Bewohners, der Assistenz zu einem Bankraub einfordert, bot uns die Möglichkeit, humorvoll und pointiert pädagogische Fachfragen anzureißen: Eingliederungshilfe, Inklusion und Loslösung der Bewohner von ihrem Elternhaus. Nach der Premiere des Filmes wurde diskutiert, ob ausgewiesen fiktionale Szenen überhaupt Teil eines Dokumentarfilmes sein dürfen. Aber abgesehen davon, dass der groteske Bankraub kaum mit der Alltagswirklichkeit verwechselt werden kann, dokumentieren wir hier, dass die Bewohner Spaß am Blödsinn hatten, Spaß daran, zu spielen und ein absurdes Theater aufzuführen.

 

Eine besondere Herausforderung der Montage war das Ausbalancieren aus lustigen und traurigen Szenen. Der Themenkomplex um den Bankraub ist grotesk-witzig. Die Demenz und der Tod von Johanna Krokowski auf der anderen Seite sind so bestürzend, dass wir diese beiden Zentren des Filmes sorgfältig gegeneinander abwiegen mussten.

 

Bonusmaterial

Ein komplexes Projekt wie der "Nachbarn"-Film setzt sich aus vielen kleinen Einzelprojekten zusammen. Zu einigen dieser Unterprojekte haben wir kurze Extratexte geschrieben:

 

Die Wohnstätte Claus-Sinjen-Straße

Filmmusik selbstgemacht

Animationen im Dokumentarfilm

Unterstützte Kommunikation

Reflexion

 

Premiere

Am Freitag, 28.03.2014 feierte der "Nachbarn rollen vorüber"-Film seine Premiere, beim 18. Filmfest Schleswig-Holstein, im kommunalen Kino in der Pumpe in Kiel. Im selben Jahr lief er auch auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck. - Von der Stadt Kiel bekam der Film einen Inklusionspreis verliehen.

 

DVD

Seit November 2014 ist der Film auf DVD erhältlich. Er ist 117 Minuten lang und enthält deutsche Untertitel. Auf DVD kostet er 10,- Euro, ggf. zuzüglich Versandgebühren. Ein MKV mit englischen Untertiteln kann ebenfalls geliefert werden, auf USB-Stick. Der Filmsoundtrack ist auf CD erschienen, einige wenige Restexemplare sind noch lieferbar. Der Film kann gekauft werden direkt in der Wohnstätte Claus-Sinjen-Straße oder auch online, bitte per mail über: inga.sindt@odernicht.com.

 

Dank

Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Bewohnern der Wohnstätte Claus-Sinjen-Straße für ihre Geduld und ihr Engagement während der Dreharbeiten. Wir danken vor allem Familie Traeger und Familie Krokowski für die Bereitschaft, ihre schwierigen Familiengeschichten so offen zu teilen. Und wir gedenken Gunnar Lenz, der im Frühjahr 2016 verstorben ist, und den wir sehr vermissen.

 

Abschied von Gunnar Lenz

 


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